Reflexion zur soziologischen Praxis

Lesedauer: 6 Minuten

Die unsichtbare Soziologie

Alle zwei Jahre versammelt sich – nahezu unbeachtet von der Öffentlichkeit – eine beträchtliche Anzahl von Soziologen, um sich über Gesellschaft auszutauschen. Dieses Jahr spielte sich der größte sozialwissenschaftliche Kongress im deutschsprachigen Raum in Göttingen ab: der Kongress der deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Unter dem Titel „Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen“ wurde vom 24. – 28. September diskutiert, einander aufmerksam zugehört und genetworkt. Kurzum: „The place to be“ für SoziologInnen war diesen Spätsommer Göttingen. Anlass genug, ein wenig über die soziologische Praxis nachzudenken.

Mit diesem Vorwissen waren die Erwartungen an das wichtigste Ereignis der deutschen Soziologie natürlich hochgesteckt. Auch deshalb, weil es mein erster Besuch eines DGS-Kongresses war, freute ich mich auf spannende Debatten, neues Wissen und darauf, Profis bei der Arbeit zu beobachten.

Am Anfang meiner Einleitung steht die – zugegeben – etwas freche Behauptung, dass der Kongress kaum öffentliche Beachtung gefunden hat. Die Soziologie scheint öffentlich wenig hör- und spürbar zu sein. Einige Eindrücke, die ich im Laufe der Woche gesammelt habe, lassen auch erahnen, warum das so ist. Es lässt sich eine Brücke schlagen von den Strukturen wissenschaftlichen Arbeitens über die Freiheit der Forschung zur Außenwirkung der Soziologie.

 

Eine gut geölte aber veraltete Maschine

Was nützen einem die klügsten Köpfe auf einem Haufen, wenn der Rahmen nicht stimmt? Ein Problem, mit dem sich die DGS dank Stefanie Schmidt nicht belasten muss. Für mich als Besucher erschienen die Organisationsabläufe bereits im Vorfeld reibungslos. Der E-Mailkontakt ging nahezu beunruhigend schnell vonstatten und hat die kleinen Schwächen des Bestellformulars ausgeglichen. Während der Woche waren stets genügend Helfer zur Hand, sodass lange Wartezeiten oder Suchen nach Veranstaltungsorten kein Thema waren.

Die Begrüßungsrede von Bettina Gaus hatte die Stimmung des Kongresses im Hinblick auf die politische Sorge, Unsicherheit und den Verlust des Vertrauens ins politische System vorweggenommen. Die düsteren Aussichten wurden vielmals geteilt.

Stefanie Schmidt kann man daher nur eine gelungene Organisation attestieren, bis auf einen entscheidenden Punkt: die mediale Betreuung. Diesen Punkt werde ich weiter unten wieder aufnehmen.

Am Puls der Zeit

Die politische Grundstimmung Deutschlands hat sich selbstverständlich auch auf die Themen und Bezüge der Vorträge ausgewirkt. Kaum ein Panel, in dem die AfD nicht wenigstens thematisch präsent und eine gewisse Beunruhigung spürbar war. Die mehrmals angedeuteten Witze über die Lage der SPD haben sich auch deshalb stets mit einem bitteren Beigeschmack vermengt. Die Atmosphäre war also nahezu durchweg politisch aufgeladen.

Was das Publikum betrifft, so war es, abgesehen von einigen alteingesessenen Forschern und einer Handvoll soziologischer Prominenz, ein unerwartet junger Kongress. Im Kontrast dazu steht jedoch der Eindruck, dass sich selten eine so hohe Dichte an alten Handys – Generation Nokia 3310 – beobachten ließ, wie auf diesem Soziologenkongress. Viele Besucher, egal ob alt oder jung, schienen auf Kriegsfuß mit der neuen Technologie zu stehen. Ein weiterer Punkt, der in das Bild der schlechten medialen Präsenz passt.

Strahlkraft der Soziologie

Aus dem kleinen Kreise der Soziologen, die in der Öffentlichkeit Wahrnehmung finden, mischten sich eine Handvoll unter die Besucher. Um einige bekannte Namen zu nennen: Armin Nassehi, Stefan Lessenich, Heinz Bude und aus den USA Andrew Abbott. Aus dieser Riege wurde Armin Nassehi für seine Außenwirkung durch die DGS bei der Eröffnungsveranstaltung ausgezeichnet.

Das Thema Präsenz in der Öffentlichkeit war aber nicht nur an dieser Stelle ein Thema. Im Panel „Soziologie für Alle“ wurde etwa darüber diskutiert, welche Aufgabe der Soziologie bei der Ausbildung von Pädagogen und in der Allgemeinbildung zukommen soll. Dass unsere Disziplin hier eine gewisse Verantwortung trägt, war Konsens, die Art und Weise und wie weit sich Soziologen in die Öffentlichkeit wagen sollen, wurde jedoch kontrovers debattiert. Von einer Offenheit für normative Anfragen sprach etwa Heinz Bude mit der Begründung, dass die Soziologie etwas zu sagen habe und dies deshalb auch tun sollte. André Kieserling äußerte dagegen starke Bedenken, sich etwa in Talkshows oder im Feuilleton zu äußern. Die Fronten blieben in der Debatte ungeklärt.

Über die öffentliche Wahrnehmung wurde demnach vieles gesagt, in der Öffentlichkeit ist dagegen nahezu nichts von alledem angekommen. Vertreter der Presse scheinen nicht das Gefühl zu haben, dass hier – wo sich die Erforscher der Gesellschaft treffen – die Gegenwart auf relevante Art und Weise beschrieben wird. Ein Umstand, der viele Fragen aufwirft.

Die Frage nach der Möglichkeit der Außenwirkung hat sich jedoch durch die Art und Weise vieler Präsentationen bereits von selbst beantwortet. Sehr wenige Ausnahmen haben bewiesen, dass sie Wissen rhetorisch geschickt vermitteln können. Hier fiel vor allem oben erwähnte soziologische Prominenz positiv auf. Offensichtlich ist das Bewusstsein über die Relevanz der Fähigkeit zur Vermittlung von Wissen entscheidend, und zwar für beides: den internen Diskurs und die Außenwirkung.

Dabei war die Schwierigkeit nicht die Fachsprache, das Problem war viel grundlegender. Präsentationen waren überladen, Vorträge wurden abgelesen und waren trotzdem ungeschickt formuliert. Erschreckend gerade dann, wenn man überlegt, dass die Vortragenden mehrere Jahre mit der vorgestellten Forschung verbringen. Dabei kommt noch hinzu, dass die Themen oft nicht bezüglich ihrer Relevanz und gesellschaftlicher Problemstellung erläutert werden. Wieso halten die Vortragenden ihre Forschung überhaupt für wichtig? Dieser Punkt scheint mir besonders im Zusammenhang mit der Struktur moderner Wissenschaft zu stehen, wie ich im weiteren Verlauf deutlich machen werde.

Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten fehlte auch jegliche Art der medialen Aufbereitung. Es existieren keine zugänglichen Aufzeichnungen der Panels, noch nicht einmal der Keynotes. Ebenso wenig fanden Live-Streams oder Ähnliches statt. Neben den immer gleichen PowerPoint Präsentationen gab es keine mediale Unterstützung. Dieser Zustand macht mich ratlos. Warum ist die deutsche Soziologie hier so weit zurück?

Es handelt sich folglich um zwei Strukturprobleme sozialwissenschaftlicher Vorträge, die zusammenhängen: mangelnde Rhetorik und unzeitgemäßer Medieneinsatz.

Nun muss den Forschern zugutegehalten werden, dass Öffentlichkeit im wissenschaftlichen Diskurs natürlich gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt: Der Fachdiskurs wird vereinfacht, die Erkenntnisse dadurch leichter angreifbar. Andererseits kann es auch ein Zeichen für zu hohe Komplexität sein. Diese Deutung wurde auch im internen Diskurs mehrfach bemüht, wenn es um die Außenwirkung der Soziologie ging.

Fest steht jedoch, dass das Präsentieren der eigenen Forschung und der Austausch darüber ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Tätigkeit sein muss. Selbst wenn es sich um ein fachspezifisches Publikum handelt.

 Freiheit der Forschung, Freiheit an Universitäten

Eines der Highlights des Kongresses war zweifellos die Preisverleihung an Richard Münch für sein Lebenswerk. Das nicht nur, weil er in Bamberg forscht, also dort, wo ich studiere, sondern vor allem wegen seines Vortrags. Ein Vortrag zur Ökonomisierung der Bildungslandschaft. Viele Befunde deuten darauf hin, dass diese Entwicklung nicht zu besseren Ergebnissen bei Tests oder gar zu besseren Leistungen führt.

Und dann noch ein ganz persönlicher Moment des Neides, als Professor Münch beschreibt, wie frei die Orientierung im Rahmen seines Studiums und der Promotion in Heidelberg möglich war. Eine starke Universitätsverwaltung kann eben keine Innovation beschleunigen oder erzwingen. Wichtig sei der Austausch zwischen den Forschern und dieser gelingt besser ohne die gegenwärtige Verwaltung.

Hier schließt sich der Bogen: Die eingeschränkte persönliche Orientierungsfreiheit im Fach, die kaum vorhandene Außenwirkung und die oft verbesserungsbedürftige Fähigkeit, Wissen zu vermitteln.

Der eigene Orientierungsaufwand im Feld der Soziologie ist nützlich, um die eigenen Motive klarer fassen zu können und ein eigenes Profil herauszuarbeiten. Das wäre für die Vermittlung der Ergebnisse einer solchen Forschung unendlich wertvoll. Wird man dagegen zu stark in vorgegebene Strukturen gepresst, bleibt am Ende nichts als ein ritualisiertes Frage-Antwortverhalten und eine Forschung, der zu den grundlegenden Fragen der gesellschaftlichen Problemstellung kaum etwas einfällt.

Und die Soziologie hat doch etwas zu sagen

Dabei geht es den Forschern, die sich dort präsentieren, doch um etwas. Dies hat sich am deutlichsten in der beunruhigten Grundstimmung ob der gegenwärtigen politischen Tendenzen gezeigt. Weiterhin ist der Titel der Veranstaltung öffentlichen Debatte gefolgt. Und trotzdem hält sich die deutsche Soziologie davon fern oder führt einen gesonderten Diskurs.

Einen anderen Weg schlägt die Akademie für Soziologie vor, die ihr Wissen explizit in den Dienst der Politik stellen will. Dieser Weg jedoch erklärt soziologisches Wissen von vorneherein zum Elitenwissen und widerspricht so dem Auftrag zur Aufklärung.

Wenn wissenschaftliches Wissen nicht vermittelbar ist, liegt ein Problem vor. Ob der DGS-Kongress eine Bühne für öffentliche Wahrnehmung ist? Diese Frage wird schlussendlich in der Organisation des Kongresses beantwortet. Dieses Jahr war es eine klare Absage an eine öffentlich präsente Soziologie, leider.

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