Digitalisierung by Default
Der im soziologischen Neoinstitutionalismus verwendete Begriff des Rationalitätsmythos verweist darauf, dass Organisationen ihre Verfahren als möglichst rational darstellen. Die Zielvorgabe der Rationalität von Verfahren wird dabei aus der Erwartung der Umwelt – einfach gesprochen: der Gesellschaft – gegenüber Organisationen abgeleitet. Die Gesellschaft hat die Erwartung, dass Entscheidungen in Organisationen rational getroffen werden und darum präsentieren Organisationen ihre Entscheidungsabläufe bzw. Verfahren so, dass der Eindruck entsteht, diese wären rational. Diese s Image der Entscheidungsfindung sagt demnach nicht viel darüber aus, ob Entscheidungen wirklich so getroffen werden, sondern vorerst nur über die Erwartungshaltung der Gesellschaft und der daran orientierten Reaktion der Organisationen. Auf dieser Grundlage erlangen Organisationen Legitimität, so die These [1].
In einer Organisation geben Entscheidungsregeln vor, welches Ereignis aufgrund welches Verfahrens zu welchem Ergebnis führen soll: die klassische Wenn-Dann-Regel. Rationalität bedeutet einerseits, Gründe für diesen Zusammenhang präsentieren zu können, andererseits aber auch bei der Anwendung der Entscheidungsregel das eigene Handeln unter Rückgriff auf die Rationalitätsvorgabe zu reflektieren. Unabhängig davon, ob die Verfahren der vorgegebenen Rationalität folgen oder, so wie der Begriff des Rationalitätsmythos vermuten lässt, es sich nur um eine begriffliche Fassade handelt.
Tatsächliche oder vorgespielte Rationalität gibt dem Menschen eine Perspektive auf sein eigenes Handeln. Durch die stetige Reproduktion der Anwendung müssen die Werte erinnert werden, selbst, um sich nur davon abzugrenzen bzw. davon abzuweichen.
Ein skizzenhaftes Beispiel soll das verdeutlichen: Eine Personalabteilung automatisiert die Vorauswahl von Bewerbern anhand eines Algorithmus. Der dafür bisher zuständigen Personalabteilung entgehen dadurch einige Handlungen, die auf der Grundlage gewisser rationaler Kriterien erfolgen sollen. So wird vor der Vorauswahl vielleicht ein Katalog an Qualifikationen erstellt, die für die Position wichtig ist. Außerdem wird über politische Themen wie Frauen in Führungspositionen oder Bewerber mit Namen, die auf einen Migrationshintergrund o. Ä. schließen lassen, gesprochen. Bei der Durchsicht der Bewerbungen von Menschen mögen diese Kriterien nicht die entscheidende Rolle spielen, trotzdem sind die Vorgaben gedanklich präsent. Das kann so weit gehen, dass etwa Bewerber mit türkisch klingendem Namen aufgrund der Angst vor Integrationsproblemen abgelehnt werden, jedoch die fachliche Qualifikation angezweifelt wird, um diese Assoziation zu vertuschen. Wie auch immer, der Prozess ist offen. Jedoch: Gedankengänge sind mit den Kriterien konfrontiert und erhalten so einen Bezugspunkt.
Ich beziehe mich in meinem Handeln in irgendeiner Weise auf die Vorgabe der Rationalität, ich verhalte mich dazu. Und ebenso jeder, der mit dementsprechenden Entscheidungen betraut ist.
Es ist egal, ob das Ergebnis eines automatisierten Prozesses identisch, unterschiedlich, besser, schlechter oder schneller ist, die Externalisierung der nötigen Denkvorgänge macht andere Menschen. Es kann sein, dass anhand von Algorithmen gerechter entschieden werden kann, diese Frage ist empirisch offen, jedoch bedeutet jede Automatisierung von Entscheidungsregeln, dass eine Vielzahl von Menschen diese Entscheidung nicht mehr prozessieren muss. Der Weg von Intention zum Ergebnis ist by Default digitalisiert und wird damit auch durch die digitale Prozessierung zum Default.
Rationalität gegen Verantwortung?
Durch die Automatisierung von Entscheidungen ergibt sich demnach eine Differenz: Entscheidungsregeln denken und Entscheidungsregeln ausführen ist ein Unterschied. Das wird besonders in Momenten der Irritation deutlich, in denen Technik nicht mehr funktioniert oder falsch eingesetzt wurde. Ein Navigationssystem, das plötzlich seinen Dienst quittiert, lässt uns orientierungslos in der Welt erwachen und wir beginnen von Neuem wahrzunehmen, wo wir sind. Wir fallen in der Mitte eines aufgegebenen [2] Prozesses aus der Schleife und müssen zuerst unseren Weg rekonstruieren, um selbst eine Fortsetzung bewerkstelligen zu können. Läuft der Prozess ungestört ab, muss es nie zu diesem Moment der Orientierung kommen.
Deshalb ist das Durchführen von Entscheidungsprozessen auch mit Verantwortung und mit Identifikation verbunden. Die eigenen Fähigkeiten, die Entscheidungsregeln auf einen Sachverhalt anzuwenden, nehmen gewissermaßen unsere Existenz in Beschlag. Interessant wird dieser Ablauf im Kontext der Digitalisierung an genau dieser Stelle: Was bedeutet es, wenn Entscheidungsregeln nicht mehr von Menschen prozessiert und angewandt, sondern automatisiert werden?
Das führt mich zu folgender These: Nur wenn man eine Entscheidung als rationale Entscheidung zu begründen hat, egal ob vor sich selbst oder vor anderen, findet eine Identifikation damit statt. Die Kategorie der Verantwortung kann erst durch diese Verbindung von Entscheidung und Begründung in Erscheinung treten. Das Vorhalten von Gründen – unabhängig ob diese zutreffen, ausgedacht oder instabil sind – ist die Grundlage einer sinnhaften Existenz, denn: Die Geschichte, die wir über unser Leben erzählen, besteht aus der sinnhaften Verbindung unserer Handlungen. Selbstnarrative dienen als Mittel zur Erhaltung und Bildung von Werten [3]. Deshalb führt die Externalisierung von Entscheidungen auch zur Externalisierung von Werten.
Das ist der Unterschied zwischen dem analogen und dem digitalen Rationalitätsmythos. Die Übersetzung von als rational verstandenen Werten in Entscheidungsregeln erfolgt im Falle der Automatisierung von wenigen (auf der Seite der Programmierung), entbindet jedoch viele davon, die Verbindung von Werten und Entscheidungen denkend nachzuvollziehen.
Wenn die Überzeugung herrscht, dass die technische Anwendung rational entscheidet, dann muss sich niemand dafür rechtfertigen. Somit übernimmt auch niemand dafür Verantwortung.
Digitalisierung bedeutet dieser Argumentation folgend nicht nur verfestigte Gesellschaft, sondern auch unverantwortete Gesellschaft.
Fußnoten:
[1] Meyer, J. & Rowan, B. (1977). Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. American Journal of Sociology, 83(2), 340-363.
[2] Aufgegeben soll hier durchaus im postalischen Sinne verstanden werden: Eine zu treffende Entscheidung wird in der Hoffnung der Erfüllung in einen externen Prozess eingeschleust und an anderer Stelle wieder in den internen Prozess integriert. Was dazwischen passiert muss nicht selbst erledigt werden.
[3] Kenneth J. Gergen (1998) Erzählungen, moralische Identität und historisches Bewusstsein; in: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein: die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte; hrsg. von Jürgen Straub, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Weitere Essays zur Digitalisierung:
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