Welchen Nutzen hat die Soziologie?
Eine Frage, die man sich als angehender Soziologe lieber einmal zu oft als zu wenig stellt. In einer Wissenschaft, die weit davon entfernt ist, die eine wahre und richtige Vorgehensweise vorzugeben, ist es umso wichtiger, sich der Paradoxien und Widersprüche bewusst zu sein, um die eigenen Standpunkte argumentieren zu können. Daher möchte ich die folgenden Zeilen nutzen, um solche Widersprüche in drei Bereichen der Soziologie aufzuzeigen, die jedem in diesem Feld bekannt sein sollten.Die drei Bereiche sind das Selbstverständnis der Soziologie, die Anschlussfähigkeit der Soziologie und die Folgen der Soziologie.
Selbstverständnis der Soziologie
Das Selbstverständnis der deutschen Soziologie wird stark durch den Mythos des Positivismusstreits geprägt. Stellvertretend findet dieser Ausdruck in der Kontroverse zwischen Karl Popper und Theodor W. Adorno. Neben den tiefgreifenden Unterschieden gibt es Einigkeit in entscheidenden Punkten wie der grundsätzlich kritischen Perspektive der Soziologie. Entschieden kontroverser geht es bei der Frage nach der Reichweite von Zusammenhängen zu.
Adorno sieht die Notwendigkeit, Fragestellungen immer in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen. Trotz der Widersprüche der Rationalitäten und Irrationalitäten, die eine Gesellschaft als Ganzes aufweist, bleibt sie trotzdem bestimmbar. Mehr noch, diese Eigenarten sind es, an die sich die Soziologie anpassen muss: Sie bestimmen die Methoden. So kann die Gesamtheit der Gesellschaft als das Ergebnis ihrer einzelnen Momente verstanden werden, ohne die Notwendigkeit ein davon unabhängiges Eigenleben anzunehmen. Erkannte Probleme in einer solchen Perspektive gehen immer aus Spekulationen hervor. Nur wenn etwas anders gedacht werden kann – also als das, was es nicht ist – kann ein Problembewusstsein entstehen.
Für Popper dagegen als Vertreter der positivistischen Seite (jedoch: Auch Popper war kein „harter“ Positivist und hat seine Position als Kritizismus bezeichnet), stellen sich Probleme und deren Lösungen als reale Sachverhalte dar: Sie sind an sich wirklich. Soziologie – wie jede andere Wissenschaft auch – sollte sich seiner Auffassung nach damit beschäftigen, Lösungen für einzelne Probleme innerhalb von spezifischen Bereichen zu finden. Darauf bezieht sich die Überzeugung, dass Methoden in den Natur- und Sozialwissenschaften die Gleichen sein sollten. Objektivität erlangen Lösungsvorschläge dabei durch gegenseitige Kritik. Eine einzelne Perspektive kann dieses Kriterium nie erfüllen. Soziologisches Wissen kann so immer aufeinander aufbauen und besser werden, weil der Bezug stets ein konkretes Problem und dessen bisherige Lösungsversuche ist.
Pointiert kann also gesagt werden, dass Adorno die Aufgabe der Soziologie im Beschreiben der sich ständig wandelnden gesamten Gesellschaft sieht, Popper dagegen für einzelne Problembereiche die andauernde kritikgeleitete Verbesserung von Lösungsvorschlägen wünscht. Der Widerspruch zwischen einer sich ständig wandelnden Gesellschaft und der Notwendigkeit, Probleme zu fixieren, um sie zu lösen, begleitet die Soziologie stetig. Am Beispiel der Beobachtung digitale Medien sieht man dies gegenwärtig deutlich: Zum Thema Massenmedien gibt es bereits eine Vielzahl an Perspektiven und einen bereits vielfältig über Jahrzehnte hinweg geführten Austausch. Dieser ist zwar teilweise anschlussfähig, jedoch in vielen Punkten nicht mehr aktuell. Das Phänomen der digitalen Medien muss erst klar von der analogen Technikwelt nach soziologischen Kriterien abgegrenzt werden. So fragt sich beispielsweise die Systemtheorie unter den neuen Vorzeichen der digitalen Medien: Ist Technik dadurch ein eigenes Gesellschaftssystem? Es wird also stetig danach gesucht, inwiefern neueste Entwicklungen die Reproduktion der Gesellschaft beeinflussen. In einem Bereich wie Technik mit solch rapidem Wandel ist es daher besonders wichtig sich der Spannung zwischen Aktualität und akkumulativem Wissen bewusst zu sein.
Anschlussfähigkeit der Soziologie
Eine Debatte, welche die Geschichte der Soziologie ebenfalls ständig begleitet, ist die Frage nach dem „Publikum“. Gerade in jüngster Zeit wurde diese wieder entfacht durch Michael Burawoys lautstarker Forderung nach einer public Sociology. In Widerspruch dazu stehen jedoch die Mechanismen des wissenschaftlichen Betriebs.
Für eine Soziologie, die sich an die außerakademische Welt richtet, wird in letzter Zeit eine immer stärkere Nachfrage empfunden, wenn es um die Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen geht. Bei Fragen zu Rechtspopulismus, digitalem Wandel oder der Schere zwischen Arm und Reich: Bei der Deutung dieser Phänomene sind überall soziologische Kernkompetenzen gefragt. Um diese Expertise jedoch anzubringen, bedarf es einer einfacheren, unpräziseren, also einer in Teilen entwissenschaftlichen Sprache. Hierin liegt ein großes Problem im Verhältnis zwischen Soziologie und Gesellschaft. Denn um die Karriereleiter möglichst schnell möglichst hoch zu klettern gilt es Spezialwissen in einer Fachsprache in Fachzeitschriften zu platzieren. Dieser Wettlauf, gerade am Beginn der wissenschaftlichen Karriere, verbietet es geradezu neben der fachinternen Debatte auch die öffentliche zu bedienen. Oft sind es alteingesessene etablierte Soziologinnen und Soziologen, die sich den Luxus der Teilnahme am öffentlichen Diskurs erlauben können. Öffentlichkeitswirksames Auftreten hemmt also die Fähigkeit, schnell Reputation aufzubauen und dadurch Karriere innerhalb der Wissenschaft zu machen.
Eine weitere Schwierigkeit zeigt sich, wenn es um die Wahrnehmung in der öffentlichen Debatte geht: Schnell wird man nicht mehr als Soziologe oder Soziologin wahrgenommen, sondern als politisch motivierter Mensch, der einem Lager zugeordnet wird. Ein solches Image wiederum stößt innerhalb der Wissenschaft nicht gerade auf Begeisterung. Viele versuchen auch deshalb den Umweg über die Politikberatung zu wählen, um ihr Wissen anzubringen. Diese ist besser anschlussfähig und als Abnehmer stärker akzeptiert als die breite Öffentlichkeit. Ein Grund dafür mag auch sein, dass aus dem politisch motivierten Bereich viele Forschungsaufträge kommen, es sich also wieder Beschäftigungsperspektiven anschließen.
Der Grundidee der Soziologie als Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst zum Zwecke der Selbstbestimmung wird dabei jedoch nicht ausreichend nachgekommen. Ganz im Gegenteil produziert die Abkürzung über das Feld der Politik eher eine Art geheimes Herrschaftswissen, welches das Verständnis für politische Entscheidungen nicht erhöht.
Folgen der Soziologie
Ein in letzter Zeit in Deutschland in Vergessenheit geratenes Feld ist die Wirkungsforschung. Einen besonders guten Überblick dazu gibt das von Ulrich Beck mit verfasste Einführungskapitel des Sammelbands Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung?, dessen Mitherausgeber er ebenfalls war. Ziel dieses Ansatzes ist es zu beobachten, wie soziologisches Wissen aufgenommen und verwertet wird, also die Gesellschaft verändert. Als aktuelles Beispiel kann man hier den Begriff der Mittelschicht anführen, der mittlerweile in die Alltagssprache übergegangen ist. Was jedoch nicht bedeutet, dass jeder das Konzept im Sinne der Soziologie verwendet: Kein Soziologe und auch keine Soziologin würden etwa Friedrich Merz der gehobenen Mittelschicht zuordnen.
Hier stecken wir also schon wieder bis zum Hals im nächsten Paradoxon. Das in der Soziologie generierte Wissen, was häufig auch mit neuen Begriffen einhergeht, wird in ganz anderen Kontexten aufgegriffen. Die Perspektive auf das Wissen ist dann jedoch meist eine ganz andere und keine wissenschaftliche mehr. Der Rückgriff erfolgt dann selektiv, um eigene Ziele zu verfolgen. So nutzen – wie bereits oben angesprochen – Politiker soziologisches Wissen zum Machterhalt bzw. Machtgewinn, soziale Bewegungen, um ihren Protest zu legitimieren oder Unternehmen, um die eigene Zielgruppe besser zu bestimmen und dadurch den Gewinn zu steigern. Dabei vermischt sich soziologisches Wissen immer mit einer Vielzahl von anderen Wissensquellen. Wie die Erkenntnisse der Soziologie also eingesetzt werden und mit welchen Folgen ist für die Soziologie selbst folglich hochgradig unvorhersehbar. Es muss noch klargestellt werden, dass es sich bei dem Wissen, das durch die wissenschaftliche Betrachtung von Gesellschaft erzeugt wird, nicht um besseres Wissen handelt. Viel eher ist es eine bestimmte Art von Wissen unter vielen.
Diese Beschreibung ergibt sogleich eine weitere Schwierigkeit: Erklären bedeutet im Sinne der Soziologie gleichzeitig auch immer verändern. Der Gegenstand, also die Gesellschaft, verändert zunehmend – auch unter Rückgriff auf soziologisches Wissen – ihren Charakter. Man kann etwas fragen, was es für das Selbstverständnis einer Gesellschaft bedeutet, wenn sie sich selbst als in verschiedene Schichten eingeteilt begreift. So kann zum Beispiel ein Friedrich Merz die Idee der Schichten nutzen, um seine Zugehörigkeit zu der von der Politik allseits umworbenen Mittelschicht zu beteuern und so versuchen Sympathien zu gewinnen. Der Begriff, welcher schon lange kein explizit soziologischer mehr ist, trägt so dazu bei, Politik zu legitimieren. Diese Politik wirkt dann aber durch ihr Handeln wieder zurück auf die soziologisch definierte Mittelschicht, indem etwa Veränderungen in der Sozialpolitik daraus resultieren.
Wir sehen also, warum die Wirkungsforschung ein so spannendes Feld ist: Sie kann gewisser maßen aufzeigen, wie sich der Gegenstand alleine durch die Beschreibung verändert. Sie ist also die Antwort auf die Frage: Was bleibt von der Soziologie? Eine Frage, die gerade bei sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen äußerst relevant ist, denn: Ist Wissen hier erst einmal in den Alltagsgebrauch eingegangen, so wirkt es oft trivial und selbstverständlich. Dass damit jedoch häufig geradezu revolutionäre Neuerungen verbunden sind, ist dann nur noch schwer verständlich. Eine Wissenschaft, die jedoch nur banale Wahrheiten produziert, lässt sich schlecht legitimieren. In Wirklichkeit ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Wenn soziologisch erzeugtes Wissen als Alltagswissen erscheint, hat es seinen Zweck wenigstens ein Stück weit erfüllt.
Welchen Nutzen hat die Soziologie?
Welchen Nutzen hat die Soziologie nun in Anbetracht all dieser Widersprüche? Widersprüche sind wichtig, denn sie zeigen: Gesellschaft ist komplex und häufig gibt es kein eindeutiges richtig oder falsch. Wenn es aber keine klaren Antworten gibt, muss sich über Art und Weise des Zusammenlebens viel mehr ausgetauscht werden. Indem die Soziologie Gesellschaft mit dieser Perspektive beobachtet, wirkt sie auch daran mit sie gestaltbar zu halten. Dadurch Widersprüche aufzuzeigen und aushalten zu können, bleibt Gesellschaft, wie Adorno schreibt, zwar widersprüchlich, aber trotzdem bestimmbar.
Warum ist dann die Soziologie selbst voller Widersprüche? Reicht es denn nicht aus, dass die Gesellschaft voll mit diesen ist? So sehr es die Soziologie auch versucht, auf Distanz zu ihrem Gegenstand zu kommen, so klar steht trotzdem die Erkenntnis, dass sie ein Teil davon ist. Darum sehen wir es lieber als gutes Zeichen, wenn wir die Widersprüche innerhalb unserer Disziplin nicht auflösen können. Unter der Vielzahl von Versuchen, Intelligenz zu definieren, gibt es einen, der dieses Thema besonders gut auf den Punkt bringt: Intelligenz ist die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten. So ist die Soziologie ebenso wie die Gesellschaft geeint in ihrer Widersprüchlichkeit.
Quellen
Positivismusstreit:
Habermas, Jürgen. Zur logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982.
Die beiden darin enthaltenen und aufeinander bezogenen Positionen von Popper und Adorno findest Du jeweils hier als PDF: 1. Popper 2. Adorno
Wirkungsforschung:
Beck, Ulrich, & Bonß, Wolfgang (1989). Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? : Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1989
Fretschner, Rainer, und Josef Hilbert, 2006: Soziologie und Politikberatung – Anmerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis. S. 59-72, in: Falk, Svenja, Dieter Rehfeld, Andrea Römmele und Martin Thunert (Hg.), Handbuch Politikberatung. Wiesbaden: VS Verlag.
public sociology:
Michael Burawoys presidential adress von 2004, welche Grundlage der gegenwärtigen Debatte ist findest du hier als PDF.
Für eine Einordnung in den deutschsprachigen Kontext siehe den Beitrag (PDF) von Anette Treibel in der Zeitschrift soziologische Revue von 2017; 40(1): 27-43.
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