Technikdeterminismus

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Technikdeterminismus

Die Henne-Ei-Frage der Techniksoziologie lautet: Was war zuerst da? Technische Innovation oder gesellschaftlicher Wandel? Die Antwort darauf fällt unter Vertretern des Technikdeterminismus eindeutig aus. Große Teile unserer gesellschaftlichen Realität sind durch das geprägt, was uns die technischen Möglichkeiten vorgeben. Diese technisch determinierten Zwangsläufigkeiten spielen im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft eine entscheidende Rolle, etwa wenn es um den Charakter der Demokratie geht.

Die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft

Der zunehmende Einfluss von wissenschaftlicher Erkenntnis ist ein entscheidendes Phänomen unserer Zeit. Durch diese Verwissenschaftlichung der Welt und des Lebens erhält die Wissenschaft an sich eine neuartige und weitaus wichtigere Bedeutung. Ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Welt wurde durch dieses Wissen erschaffen. Dieses wirkt sich auch in verändertem Handeln und Denken der Menschen aus. Klar wird dieser abstrakte Zusammenhang dann, wenn man sich Natur als feststehende Umstände vorstellt. Diese werden durch den Einzug der wissenschaftlichen Erkenntnis aus dieser Fixierung gelöst. Der Mensch erhält zunehmend Gestaltungsmacht gegenüber seinen natürlichen Umständen.

Eben diese universal gewordene Technik wirkt in Bereiche des persönlichen Lebens, die bisher naturgegeben oder historisch bestimmt und dem technischen Zugriff entzogen waren. Folglich galten diese Bereiche als Natur oder geschichtliche Umwelt und waren daher unbeeinflussbare Grundlage unserer Handlungen. Die moderne Technik ermöglicht diese Überschreitung anhand von drei Eigenschaften. Erstens der analytischen Zerlegung des Gegenstands in letzte Elemente. Zweitens der Synthese der Elemente nach dem Prinzip der höchsten Wirksamkeit, also der maximalen Leistungshöhe. Und drittens durch ein die Welt analysierend und neues synthetisches Bewusstsein.

Mit diesen Elementen geht ein Kreislauf der sich selbst bedingten Produktion einher: Die Grundlage der Synthese ist selbst arrangiert. So ermöglicht die zunehmende Verwissenschaftlichung eine zunehmende Gestaltung der eigenen Umstände. Diese neu gestalteten Umstände bieten dann wieder die Grundlage zur weiteren Zerlegung und Synthetisierung.

Dadurch tritt dem Menschen technische Innovation als Forderung gegenüber. Diese muss er in sein Leben integrieren. Sei es passiv durch die Annahme von Veränderungen oder aktiv durch die Verwendung.

Wandel der Demokratie: der technische Staat

Die fortschreitende Verwissenschaftlichung führt auch zu einer zunehmend legitimierten und rationalen Herrschaft. Damit herrscht jeder und wird gleichermaßen wieder beherrscht, da das Ziel die Willenseinheit von Herrschenden und Beherrschten ist. Die Folge der Wissens- und Technikgesellschaft ist ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch. Überwiegend ist dieses Verhältnis jedoch geprägt von Sachgesetzlichkeiten, die nicht als politische Entscheidung setzbar sind. Dies bedeutet eine grundlegende Veränderung des Charakters der Demokratie.

Schelsky folgend, entsteht ein technischer Staat, der sich durch drei Kerneigenschaften auszeichnet. So wird erstens Technik als Machtmittel verwendet. Dabei geht es hauptsächlich um die Aneignung von Technologien großer Reichweite. Hier können Massenmedien ebenso als Beispiel dienen wie Rüstungsgüter. Die zweite Eigenschaft ist die Finanzierung moderner Technologien, welche häufig nur durch den Staat geleistet werden kann. Dies zeigt sich etwa bei Infrastrukturprojekten oder in weiten Teilen der Raumfahrt. Schließlich muss drittens Komplexität an einer zentralen Stelle (dem Staat) organisiert werden, um die Funktion gewährleisten zu können. So wird etwa die Vergabe von Funkfrequenzen staatlich geregelt, um sicherzustellen, dass sich Radiosender und die Kommunikation von öffentlichen Behörden wie der Polizei nicht überschneiden.

Technische Möglichkeiten erzwingen ihre Anwendung in einem Staat, der die höchste Wirksamkeit beansprucht. In dieser Technokratie entscheidet der Sachzwang der technischen Möglichkeiten. Schelsky spricht hier von einer fiktiven „Entscheidungstätigkeit der Politiker im technischen Staat“, also dem Fehlen von Herrschaft. Aufgrund des erhöhten Informationsaufwands, der nötig ist, um Sachverhalte zu beurteilen, kommt es zu einer Entpolitisierung und Entdemokratisierung. So kann der Staat nur noch das Rechtfertigen von sachlich notwendigen Aktionen als Ziel verfolgen. Dabei sind technologische Argumente völlig unabhängig von der Herrschaftsform.

Kritik an der Wissenschaft

Anstatt das humboldtsche Bildungsideal zu erfüllen, treten Ziele der praktischen Gestaltung unserer Welt in den Vordergrund der Bildungsanstalten. Die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, die das Ziel des Ersteren ist, wurde verdrängt von einer immer stärkeren Repräsentanz anwendungsbezogener Bereiche in der (Aus-)Bildung. (In der Praxis hat das humboldtsche Bildungsprinzip natürlich nie stattgefunden. Jedoch hat man sich noch weiter davon entfernt.) Somit ist die Trennung von Wissenschaft und Praxis aufgehoben. Wissenschaft steht stets im Bezug zur praktischen Verwertbarkeit. Diese Synthese der Wissenschaften prägt das Alltagsleben. Jeder Bereich der Alltagswelt ist durch wissenschaftliches Wissen geprägt.

Dabei ist es Schelsky zufolge schlicht unmöglich geworden alle Bereiche zusammenzudenken und geistig zu ordnen. Dieses kann gar nicht mehr geleistet werden. Jedoch geschieht diese Synthese in der Praxis. Bildung unter dieser Perspektive ist daher die „geistige Überwindung der Wissenschaft – gerade in ihrer technisch-konstruktiven Dimension.“ Dies soll bedeuten, dass der Anspruch die Welt durch Technik bewusst zu gestalten nicht mehr bestehen kann. Viel eher sind Universitäten Anstalten für die Techniken der wissenschaftlichen Zivilisation geworden.

 

Der Artikel orientiert sich weitestgehend an Helmut Schelskys „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“:

Schelsky H. (1961) Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. In: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Geisteswissenschaften), vol 96. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

 

 

 

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